Altenpflege braucht keine “Fangprämien”

Vor einigen Tagen hat Andreas Westerfellhaus, Pflegebeauftragter der Bundesregierung ein Prämiensystem vorgeschlagen, um Menschen zur Rückkehr in den Pflegeberuf zu bewegen.

Demnach schlägt Herr Westerfellhaus sowohl eine Prämie bis zu 5000 € steuerfrei vor für Pflegekräfte, die wieder in den Beruf einsteigen oder von Teilzeit auf Vollzeit aufstocken. Auszubildende, die direkt im Anschluss in Festanstellung gehen sollen bis zu 3000 € erhalten wie auch Arbeitgeber, die Pflegekräfte zusätzlich einstellen.

Es stellt sich die Frage: wofür sollen Arbeitgeber eine Prämie erhalten?
Wird irgendein Arbeitgeber mehr zusätzliches Personal einstellen,
als er über Krankenkassen oder zulasten der Bewohner in Pflegeeinrichtungen refinanziert bekommt?

Und warum sollen Pflegekräfte bei einer Reduzierung von 100 Prozent ihres Beschäftigungsumfanges auf 80 Prozent einen vollen Lohnausgleich erhalten? Wer arbeitet dann noch 100 Prozent? 

Welche Signale werden durch solch aberwitzige Vorschläge an Pflegekräfte gesendet, die über Jahre im System geblieben sind?

Das Programm ist auf circa drei Jahre begrenzt und kostet Millionen.

Offensichtlich hat Herr Westerfellhaus  verstanden, dass Pflegekräfte bessere Rahmenbedingungen benötigen, höhere Löhne, bessere Personalschlüssel und mehr Personal und flexiblere Arbeitszeiten mit längeren Ruhephasen.

Warum wird dieses Prämiengeld für nicht mehr Mitarbeitende in der Pflege eingesetzt, wie ich es schon als Erster seit 1991 begründet fordere?
– siehe auch meinen Artikel von 1991 !! :
“Die Situation wird bedrängend. Bericht die Pflege zusammen, weil die Personalschlüssel nicht ausreichen? – Link zum Artikel

Dieses Prämiengeld für mehr Mitarbeitende in der Pflege eingesetzt, hilft den bewährten Mitarbeitenden und motiviert Pflegekräfte, zurück in das System Pflege zu kommen. Wenn der Pflegeberuf allerdings zum Ausverkaufsmodell mit Prämien für einzelne verkommt, dann werden auch die „Überzeugten“ nicht mehr bleiben.

Geht es Herrn Westerfellhaus tatsächlich um die Lösung des Pflegenotstandes oder eher um eine eigene öffentlichkeitswirksame Darstellung?

Hier werden wieder einmal Nebenschauplätze geschaffen, die viel Zeit und Energie binden werden, ohne zu einem spürbaren Ergebnis zu kommen.

Hierzu hat sich auch eindeutig und klar Helmut Wallrafen, Geschäftsführer der Sozialholding der Stadt Mönchengladbach GmbH geäußert. Seinen Kommentar versieht Wallrafen mit der Überschrift
„Westerfellhaus’ Prämienwahnsinn“. 

Lesen Sie seinen Kommentar „Voraussetzungen für sozialwirtschaftliche Altenpflege schaffen“ im sgp-Report vom 22.5.2018. 

Link zum Artikel

Herausforderung Fachkräftemangel in der Pflege! Gibt es gute Strategien?

Der Fachkräftemangel in der Altenpflege ist das beherrschende Thema. Doch die größere Herausforderung ist zunächst die tägliche personelle Unterbesetzung von circa 30 %. Dies ist das eigentliche Kernproblem und auch der Skandal in der Altenpflege.

Denn als erster in Deutschland habe ich bereits 1991 nachgewiesen, dass jedes deutsche Pflegeheim mit einer täglichen personellen Unterbesetzung von 30 % arbeiten muss. (s. Artikel: “Die Situation wird bedrängend. Bricht die Pflege zusammen, weil die Personalschlüssel nicht ausreichen?”
in : Altenpflege 7/91) – Link zum Artikel

Der Grund: die geltenden Personalschlüssel, die niemals betriebswirtschaftlich oder pflegewissenschaftlich ermittelt worden sind, berücksichtigen nicht die in den Jahren angestiegenen Abwesenheits-Quoten wie Urlaub Krankheit Fortbildungen. Meine Untersuchungsergebnisse wurden später bestätigt durch das KDA-Plaisir-Verfahren und das Referenzmodell des Landes NRW.

Die Altenpflege hat also kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Doch die Versäumnisse von fast 30 Jahren können nicht sofort behoben werden.

 

Welche Strategien gibt es?

Sofort-Massnahme:

Nur ein bis zwei Mitarbeitende je Pflegedienst und Gruppe mehr – es müssen keine Fachkräfte sein, würde die äußerst belastende und unverantwortliche Situation sofort und spürbar verbessern helfen.

Tatsache ist, dass bei einer normalen Besetzung im Frühdienst 3-4 Mitarbeitende für circa 30-35 Bewohner zu Verfügung stehen. Wie soll auf diese Weise, wenn Mitarbeitende täglich am Limit arbeiten, gute und individuelle Pflege gewährleistet sein?

Hier kann also die Politik sofort, schnell und wirksam handeln, ohne erst auf ein Personalbemessungssystem zu warten. 

Die im Koalitionsvertrag beschlossenen 8000 Fachkräfte lösen nicht dieses Problem, sondern sind lediglich eine Korrektur des Systems, in dem nun die Behandlungspflege endlich über die Krankenversicherung finanziert wird.

Langfristige Strategien:

Die Pflege steht in Konkurrenz zum gesamten Arbeitsmarkt um Mitarbeitende. Hier geht es also darum, den Beruf in der Altenpflege attraktiver zu gestalten. Dazu kommt, dass in 2-3 Jahrzehnten der Pflegebedarf der geburtenstarken Jahrgänge enorm wächst. Sie erreichen ihr hohes Alter in einer Zeit des massivsten Fachkräftemangels.

Auch die Bertelsmann-Stiftung hat das Thema Fachkräftemangel
aufgegriffen und hierzu das Papier „Strategien gegen den Fachkräftemangel in der Altenpflege – Probleme und Herausforderungen“ veröffentlicht.

Diese gesamte Veröffentlichung finden Sie unter diesem Link

Hinsichtlich dieser Thematik stehen Politik, Gesellschaft, Heime und Mitarbeitende in der Verantwortung:

Verantwortung der Politik + Gesellschaft

  • Mehr Ausbildungsplätze schaffen und finanzieren.
  • Fachkraftquote überdenken: weg von einer quantitativen hin zu einer qualitativen Fachkraftquote  unter Einbeziehung anderer Berufsgruppen wie Hauswirtschaft, Therapeuten, Sozialpädagogen und andere.
    Pflege ist nach wie vor zu sehr medizinisch orientiert. Doch gute Pflege umfasst das Wohnen und die soziale Teilhabe, also die Lebensqualität des Einzelnen. Daher muss die Versorgung älterer Menschen mit Pflegebedarf künftig stärker von professionellen Diensten verschiedene Disziplinen geleistet werden. Dies führt zu einer neuen Definition der Fachkraftquote, die dann nicht nur Pflegefachkräfte, sondern weitere professionelle Fachkräfte umfasst. Auf diese Weise gewinnt man statt quantitativer eine qualitative Fachkraftquote unter Einbeziehung weiterer Professionen und begegnet so gleichzeitig dem Mangel an Pflegefachkräften wirkungsvoll.
  • Zudem muss für eine verantwortungsvolle pflegerische Versorgung in Zukunft stärker differenziert werden zwischen Pflegefachkraft, Pflegekraft und Pflegehilfskraft, wobei ich den Begriff Pflege-Assistenz sympathischer finde. Mit entsprechenden Aufgaben- und Kompetenzprofilen begegnet man ebenfalls dem personellen Bedarf. 
  • Ein Einwanderungsgesetz muss den Zuzug von ausländischen Fachkräften vereinfachen.
  • Abschaffung des so genannten Pflege-TÜVs. Hier arbeiten 2100 Pflegefachkräfte, die der unmittelbaren Pflege verloren gegangen sind. Der bürokratische Aufwand ist enorm und verschlingt mit über 100 Mio Euro jährlich finanzielle und personelle Ressourcen.
  • Abschaffung unnötiger Kontrollen und Bürokratien. Weg von einer Misstrauens-, hin zu einer Vertrauenskultur.
  • Weg von herkömmlichen Heimen „von der Stange“ ohne Bezug zum Sozialraum, hin zu flächendeckenden systematischen Förderung von Quartierkonzepten mit Einbindung von Familien, Nachbarn und Bürgern und Aufbau von Kümmerer- und Vernetzungsstrukturen. Sozialräumliche Konzepte, wie inklusive Quartierprojekte, Mehrgenerationenhäuser, soziale Stadtprojekte, Gemeinschafts- Wohnprojekte u.a. haben gezeigt, wie vor Ort Engagement und Gemeinschaftlichkeit wirksam gefördert werden können. Gemeinwesenarbeit und Quartiermanagement ist hierbei ein zentrales Instrument. Auf diese Weise können im jeweiligen Wohnquartier zwischen Zivilgesellschaft und Professionellen neue, tragfähige Sorge-Settings entwickelt werden.
  • Pflegende Angehörige sind auch finanziell und im Sinne von Beratung stärker zu unterstützen. Gesundheitsfördernde und präventive Angebote für ältere Menschen und Pflegende müssen ausgebaut werden.
  • Zunehmende Digitalisierung der Wirtschaft nutzen. Experten gehen davon aus, dass durch den Einsatz von Software-Roboter in den kommenden zehn Jahren bis zu 25 % der Bürojobs wegfallen könnten.
     
  • Gewinnung junger Menschen durch neue Studiengänge, die Pflege und Technologie verbinden.
  • Sachgerechte Berichterstattung der Medien, nicht nur über Missstände, sondern erst recht über positive Beispiele, damit über ein besseres Image mehr junge Menschen für den Beruf gewonnen werden können.

Verantwortung  der Heime

  • Werteorientierte Unternehmens- und Führungskultur: Missstände in der Pflege gibt es in der Regel dort, wo diese nicht vorhanden ist. Wie man innen miteinander umgeht, wird man auch von außen wahrgenommen. Was Unternehmen bei Mitarbeitern falsch machen, können sie beim Kunden nicht besser machen. Wer ein schlechter Arbeitgeber ist, disqualifiziert sich auch als Anbieter. Nur zufriedene Mitarbeiter können auch gute Gastgeber sein.Die Folgen mangelnder gesellschaftlicher und auch unternehmensinterner Anerkennung sind dramatisch: Fachkräftemangel, hohe Fluktuation und schwacher Marktwert der Dienstleistung.Doch in der modernen Arbeitswelt ist Wertschätzung eine Schlüsselgröße für Qualität, Innovation, wirtschaftlichen Erfolg sowie Gesundheit und Zufriedenheit am Arbeitsplatz. Anerkennung von außen, stolz auf die eigene Leistung und eine wert-schätzende Unternehmens- und Führungskultur durchbrechen diesen Teufelskreis.
  • Kundenorientiertes Denken und Handeln: alle Maßnahmen, Handlungen und organisatorischen Abläufe  an der Frage ausrichten: was hat der Kunde davon?
  • Personal-Marketing als wichtiger Schlüssel gegen die derzeitige Personalmisere mit den drei Aspekten „Finden, Fördern und Binden“.
  • Heime müssen Fach- und Führungskräfte stärker selbst ausbilden. Kooperationen mit Schulen eingehen, Praktika anbieten und das Berufsfeld Pflege öffentlich stärker kommunizieren.
  • Individuelle Personalentwicklung, Förderung von Talenten und Stärken, Klare Aufgaben- und Kompetenzregelung. Aufgaben- und Kompetenzprofil der Fachkräfte schärfen = mehr Steuernde Funktionen.
  • Arbeitsbedingungen verbessern: Wertschätzung, Beteiligungen, Bezahlung (nur 59 % Tarifbindung), kürzere Dienstzeiten, nicht elf Tage am Stück!
  • Flache Hierarchien, mehr Autonomie und Verantwortung für einzelne Mitarbeitende.
  • Rückkehr-Programme für die vielen 1000 Mitarbeitende, die der Pflege verloren gegangen sind.
  • Quartierarbeit: Einbindung der Heime in die Kommunen und Kirchengemeinden, Beteiligung von Angehörigen und Bürgern.
  • Neue Wohn und Pflegekonzepte entwickeln – Haus- und Wohngemeinschaften – mit multiprofessionellen Teams, orientiert an den Bedarfen, Wünschen und Lebensgewohnheiten älterer Menschen.

Verantwortung der Mitarbeitenden

  • Haltung und Einstellung ändern, selbstbewusster auftreten, jammernde Opferrolle ablegen oder die Rolle der selbstlos Dienenden, glaubwürdig ihre Professionalität demonstrieren. Denn Pflege ist eine hoch anspruchsvolle, komplexe und für unsere älter werdende Gesellschaft eine überaus wichtige und wertvolle Tätigkeit, die allerdings auch gerade deshalb besser vergütet werden muss. Also die Macht der Pflege begreifen. Mitreden in der Politik, sich einmischen. Dies setzt allerdings voraus dass Pflegende sich als wertvoll, wichtig und kompetent fühlen. 
  • Sie müssen lernen, die Erfolge Ihrer Arbeit öffentlich zu kommunizieren. Dazu zählen die wiedergewonnen Autonomie, die erhaltene oder neue Lebensfreude der Bewohner, das Überflüssigmachen lebenseinschränkender Maßnahmen, das Aufrechterhalten sozialer Netzwerke des Bewohners, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, das Verhindern von Risiken oder die Absendungen der Pflegestufe in Folge guter fachlicher Arbeit.  
  • So entwickeln Mitarbeitende Stolz auf die eigene Arbeit und erreichen damit auch eine andere, verbesserte gesellschaftliche Anerkennung. Den eigenen Beruf also stärker wert zu schätzen, warum nicht nach dem Motto: „Früher war ich selbstlos, jetzt gehe ich selbst los.“(Zulehner). Und auch auf diese Weise für den eigenen Beruf im Familien- und Bekanntenkreis Werbung machen.
  • Lieben also, das was wir tun. Liebe zum Beruf bedeutet Liebe zum alten oder kranken Menschen, Liebe zu Menschen überhaupt. Werteorientiertes Arbeiten in einer Wachstumsbranche bietet demnach enorme Wettbewerbsvorteile in der Konkurrenz um Arbeitskräfte.

Fazit

Für eine gute Strategie zur Lösung des Problems reichen einzelne Maßnahmen oder Drehen an Stellschrauben im System nicht aus. 

Notwendig ist ein Paradigmenwechsel, eine radikale Umsteuerung unserer Pflegepolitik und eine neue Kultur des Miteinanders der Generationen im Sozialraum und des Zusammenhalts in der Gesellschaft im demographischen Wandel.

Die Lösung für die Pflege älterer Menschen kann nur darin bestehen, dass die Hilfe zur Selbsthilfe gefördert wird mit bezahlbaren haushaltsnahen Dienstleistungen, einem flächendeckenden Beratungsangebot, einem Quartiermanagement oder der früheren „Gemeindeschwester. Innovative und radikale Veränderungen sind notwendig, aber auch möglich, wie das Pflegemodell von Buurzorg, einem Start Up Unternehmen aus den Niederlanden zeigt.

Wenn möglichst viele Ältere sich auf ihre Stärken besinnen, ihre Potenziale und Ressourcen einbringen können und ihr Sozialraum intakt bleibt, kann der Pflegenotstand gelindert, vielleicht sogar verhindert werden.

Gewinnung junger Menschen für die Pflege

Die Vives Hochschule Kortrijk in Belgien bietet ein interessantes Studienmodell an, über das meines Erachtens junge Menschen, die Interesse an Pflege und Technik haben, zukünftig für den Beruf in der Altenpflege zu gewinnen sind.

Der Einsatz geeigneter technologischer Assistenzsysteme kann die Qualität von pflegebedürftigen Menschen verbessern und unterstützen. Ein neuer ins Leben gerufener Studiengang an der Vives Hochschule Kortrijk in Belgien vermittelt die dafür notwendigen Kenntnisse. 

Am Ende des dreijährigen Bachelor-Studiengangs verfügen die Studierenden über umfangreiche Kenntnisse bei der Implementierung von Hard- und Software-Lösungen (e-Health, Robotik, Sensor- und Smart-Home-Anwendungen) in  ambulanten und stationären Pflegesituationen. 

In dem auf hohe Praxisnähe angelegten Studium werden auf der Basis konkreter Projekte aktuelle an den Bedürfnissen von Bewohnern, Pflegepersonal und Betreibern ausgerichtete pflegetechnische Fragestellungen gelöst. „Wir sorgen mit unserer Ausbildung dafür, dass sich Technikexperten und Pflegefachkräfte verstehen. Oftmals sprechen diese Parteien nicht die gleiche Sprache“, sagt Studiengangsleiterin Tina Baetens. 

Im Juni 2018 werden die ersten Absolventen in den Arbeitsmarkt entlassen. Sorgen um eine Anstellung müssen sich die mit einem Bachelor-Diplom ausgestatteten jungen Akademikern nicht machen. Die Rückmeldungen aus den Bewerbungsgesprächen sind durchweg positiv.

Quelle: CareInvest, Neuer Studiengang verbindet Pflege und Technologie, 30.04.2018