Herausforderung Fachkräftemangel in der Pflege! Gibt es gute Strategien?

Der Fachkräftemangel in der Altenpflege ist das beherrschende Thema. Doch die größere Herausforderung ist zunächst die tägliche personelle Unterbesetzung von circa 30 %. Dies ist das eigentliche Kernproblem und auch der Skandal in der Altenpflege.

Denn als erster in Deutschland habe ich bereits 1991 nachgewiesen, dass jedes deutsche Pflegeheim mit einer täglichen personellen Unterbesetzung von 30 % arbeiten muss. (s. Artikel: “Die Situation wird bedrängend. Bricht die Pflege zusammen, weil die Personalschlüssel nicht ausreichen?”
in : Altenpflege 7/91) – Link zum Artikel

Der Grund: die geltenden Personalschlüssel, die niemals betriebswirtschaftlich oder pflegewissenschaftlich ermittelt worden sind, berücksichtigen nicht die in den Jahren angestiegenen Abwesenheits-Quoten wie Urlaub Krankheit Fortbildungen. Meine Untersuchungsergebnisse wurden später bestätigt durch das KDA-Plaisir-Verfahren und das Referenzmodell des Landes NRW.

Die Altenpflege hat also kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Doch die Versäumnisse von fast 30 Jahren können nicht sofort behoben werden.

 

Welche Strategien gibt es?

Sofort-Massnahme:

Nur ein bis zwei Mitarbeitende je Pflegedienst und Gruppe mehr – es müssen keine Fachkräfte sein, würde die äußerst belastende und unverantwortliche Situation sofort und spürbar verbessern helfen.

Tatsache ist, dass bei einer normalen Besetzung im Frühdienst 3-4 Mitarbeitende für circa 30-35 Bewohner zu Verfügung stehen. Wie soll auf diese Weise, wenn Mitarbeitende täglich am Limit arbeiten, gute und individuelle Pflege gewährleistet sein?

Hier kann also die Politik sofort, schnell und wirksam handeln, ohne erst auf ein Personalbemessungssystem zu warten. 

Die im Koalitionsvertrag beschlossenen 8000 Fachkräfte lösen nicht dieses Problem, sondern sind lediglich eine Korrektur des Systems, in dem nun die Behandlungspflege endlich über die Krankenversicherung finanziert wird.

Langfristige Strategien:

Die Pflege steht in Konkurrenz zum gesamten Arbeitsmarkt um Mitarbeitende. Hier geht es also darum, den Beruf in der Altenpflege attraktiver zu gestalten. Dazu kommt, dass in 2-3 Jahrzehnten der Pflegebedarf der geburtenstarken Jahrgänge enorm wächst. Sie erreichen ihr hohes Alter in einer Zeit des massivsten Fachkräftemangels.

Auch die Bertelsmann-Stiftung hat das Thema Fachkräftemangel
aufgegriffen und hierzu das Papier „Strategien gegen den Fachkräftemangel in der Altenpflege – Probleme und Herausforderungen“ veröffentlicht.

Diese gesamte Veröffentlichung finden Sie unter diesem Link

Hinsichtlich dieser Thematik stehen Politik, Gesellschaft, Heime und Mitarbeitende in der Verantwortung:

Verantwortung der Politik + Gesellschaft

  • Mehr Ausbildungsplätze schaffen und finanzieren.
  • Fachkraftquote überdenken: weg von einer quantitativen hin zu einer qualitativen Fachkraftquote  unter Einbeziehung anderer Berufsgruppen wie Hauswirtschaft, Therapeuten, Sozialpädagogen und andere.
    Pflege ist nach wie vor zu sehr medizinisch orientiert. Doch gute Pflege umfasst das Wohnen und die soziale Teilhabe, also die Lebensqualität des Einzelnen. Daher muss die Versorgung älterer Menschen mit Pflegebedarf künftig stärker von professionellen Diensten verschiedene Disziplinen geleistet werden. Dies führt zu einer neuen Definition der Fachkraftquote, die dann nicht nur Pflegefachkräfte, sondern weitere professionelle Fachkräfte umfasst. Auf diese Weise gewinnt man statt quantitativer eine qualitative Fachkraftquote unter Einbeziehung weiterer Professionen und begegnet so gleichzeitig dem Mangel an Pflegefachkräften wirkungsvoll.
  • Zudem muss für eine verantwortungsvolle pflegerische Versorgung in Zukunft stärker differenziert werden zwischen Pflegefachkraft, Pflegekraft und Pflegehilfskraft, wobei ich den Begriff Pflege-Assistenz sympathischer finde. Mit entsprechenden Aufgaben- und Kompetenzprofilen begegnet man ebenfalls dem personellen Bedarf. 
  • Ein Einwanderungsgesetz muss den Zuzug von ausländischen Fachkräften vereinfachen.
  • Abschaffung des so genannten Pflege-TÜVs. Hier arbeiten 2100 Pflegefachkräfte, die der unmittelbaren Pflege verloren gegangen sind. Der bürokratische Aufwand ist enorm und verschlingt mit über 100 Mio Euro jährlich finanzielle und personelle Ressourcen.
  • Abschaffung unnötiger Kontrollen und Bürokratien. Weg von einer Misstrauens-, hin zu einer Vertrauenskultur.
  • Weg von herkömmlichen Heimen „von der Stange“ ohne Bezug zum Sozialraum, hin zu flächendeckenden systematischen Förderung von Quartierkonzepten mit Einbindung von Familien, Nachbarn und Bürgern und Aufbau von Kümmerer- und Vernetzungsstrukturen. Sozialräumliche Konzepte, wie inklusive Quartierprojekte, Mehrgenerationenhäuser, soziale Stadtprojekte, Gemeinschafts- Wohnprojekte u.a. haben gezeigt, wie vor Ort Engagement und Gemeinschaftlichkeit wirksam gefördert werden können. Gemeinwesenarbeit und Quartiermanagement ist hierbei ein zentrales Instrument. Auf diese Weise können im jeweiligen Wohnquartier zwischen Zivilgesellschaft und Professionellen neue, tragfähige Sorge-Settings entwickelt werden.
  • Pflegende Angehörige sind auch finanziell und im Sinne von Beratung stärker zu unterstützen. Gesundheitsfördernde und präventive Angebote für ältere Menschen und Pflegende müssen ausgebaut werden.
  • Zunehmende Digitalisierung der Wirtschaft nutzen. Experten gehen davon aus, dass durch den Einsatz von Software-Roboter in den kommenden zehn Jahren bis zu 25 % der Bürojobs wegfallen könnten.
     
  • Gewinnung junger Menschen durch neue Studiengänge, die Pflege und Technologie verbinden.
  • Sachgerechte Berichterstattung der Medien, nicht nur über Missstände, sondern erst recht über positive Beispiele, damit über ein besseres Image mehr junge Menschen für den Beruf gewonnen werden können.

Verantwortung  der Heime

  • Werteorientierte Unternehmens- und Führungskultur: Missstände in der Pflege gibt es in der Regel dort, wo diese nicht vorhanden ist. Wie man innen miteinander umgeht, wird man auch von außen wahrgenommen. Was Unternehmen bei Mitarbeitern falsch machen, können sie beim Kunden nicht besser machen. Wer ein schlechter Arbeitgeber ist, disqualifiziert sich auch als Anbieter. Nur zufriedene Mitarbeiter können auch gute Gastgeber sein.Die Folgen mangelnder gesellschaftlicher und auch unternehmensinterner Anerkennung sind dramatisch: Fachkräftemangel, hohe Fluktuation und schwacher Marktwert der Dienstleistung.Doch in der modernen Arbeitswelt ist Wertschätzung eine Schlüsselgröße für Qualität, Innovation, wirtschaftlichen Erfolg sowie Gesundheit und Zufriedenheit am Arbeitsplatz. Anerkennung von außen, stolz auf die eigene Leistung und eine wert-schätzende Unternehmens- und Führungskultur durchbrechen diesen Teufelskreis.
  • Kundenorientiertes Denken und Handeln: alle Maßnahmen, Handlungen und organisatorischen Abläufe  an der Frage ausrichten: was hat der Kunde davon?
  • Personal-Marketing als wichtiger Schlüssel gegen die derzeitige Personalmisere mit den drei Aspekten „Finden, Fördern und Binden“.
  • Heime müssen Fach- und Führungskräfte stärker selbst ausbilden. Kooperationen mit Schulen eingehen, Praktika anbieten und das Berufsfeld Pflege öffentlich stärker kommunizieren.
  • Individuelle Personalentwicklung, Förderung von Talenten und Stärken, Klare Aufgaben- und Kompetenzregelung. Aufgaben- und Kompetenzprofil der Fachkräfte schärfen = mehr Steuernde Funktionen.
  • Arbeitsbedingungen verbessern: Wertschätzung, Beteiligungen, Bezahlung (nur 59 % Tarifbindung), kürzere Dienstzeiten, nicht elf Tage am Stück!
  • Flache Hierarchien, mehr Autonomie und Verantwortung für einzelne Mitarbeitende.
  • Rückkehr-Programme für die vielen 1000 Mitarbeitende, die der Pflege verloren gegangen sind.
  • Quartierarbeit: Einbindung der Heime in die Kommunen und Kirchengemeinden, Beteiligung von Angehörigen und Bürgern.
  • Neue Wohn und Pflegekonzepte entwickeln – Haus- und Wohngemeinschaften – mit multiprofessionellen Teams, orientiert an den Bedarfen, Wünschen und Lebensgewohnheiten älterer Menschen.

Verantwortung der Mitarbeitenden

  • Haltung und Einstellung ändern, selbstbewusster auftreten, jammernde Opferrolle ablegen oder die Rolle der selbstlos Dienenden, glaubwürdig ihre Professionalität demonstrieren. Denn Pflege ist eine hoch anspruchsvolle, komplexe und für unsere älter werdende Gesellschaft eine überaus wichtige und wertvolle Tätigkeit, die allerdings auch gerade deshalb besser vergütet werden muss. Also die Macht der Pflege begreifen. Mitreden in der Politik, sich einmischen. Dies setzt allerdings voraus dass Pflegende sich als wertvoll, wichtig und kompetent fühlen. 
  • Sie müssen lernen, die Erfolge Ihrer Arbeit öffentlich zu kommunizieren. Dazu zählen die wiedergewonnen Autonomie, die erhaltene oder neue Lebensfreude der Bewohner, das Überflüssigmachen lebenseinschränkender Maßnahmen, das Aufrechterhalten sozialer Netzwerke des Bewohners, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, das Verhindern von Risiken oder die Absendungen der Pflegestufe in Folge guter fachlicher Arbeit.  
  • So entwickeln Mitarbeitende Stolz auf die eigene Arbeit und erreichen damit auch eine andere, verbesserte gesellschaftliche Anerkennung. Den eigenen Beruf also stärker wert zu schätzen, warum nicht nach dem Motto: „Früher war ich selbstlos, jetzt gehe ich selbst los.“(Zulehner). Und auch auf diese Weise für den eigenen Beruf im Familien- und Bekanntenkreis Werbung machen.
  • Lieben also, das was wir tun. Liebe zum Beruf bedeutet Liebe zum alten oder kranken Menschen, Liebe zu Menschen überhaupt. Werteorientiertes Arbeiten in einer Wachstumsbranche bietet demnach enorme Wettbewerbsvorteile in der Konkurrenz um Arbeitskräfte.

Fazit

Für eine gute Strategie zur Lösung des Problems reichen einzelne Maßnahmen oder Drehen an Stellschrauben im System nicht aus. 

Notwendig ist ein Paradigmenwechsel, eine radikale Umsteuerung unserer Pflegepolitik und eine neue Kultur des Miteinanders der Generationen im Sozialraum und des Zusammenhalts in der Gesellschaft im demographischen Wandel.

Die Lösung für die Pflege älterer Menschen kann nur darin bestehen, dass die Hilfe zur Selbsthilfe gefördert wird mit bezahlbaren haushaltsnahen Dienstleistungen, einem flächendeckenden Beratungsangebot, einem Quartiermanagement oder der früheren „Gemeindeschwester. Innovative und radikale Veränderungen sind notwendig, aber auch möglich, wie das Pflegemodell von Buurzorg, einem Start Up Unternehmen aus den Niederlanden zeigt.

Wenn möglichst viele Ältere sich auf ihre Stärken besinnen, ihre Potenziale und Ressourcen einbringen können und ihr Sozialraum intakt bleibt, kann der Pflegenotstand gelindert, vielleicht sogar verhindert werden.