Post für Herrn Ullrich


„Post für mich?“ .fragte er durch die Luke. Nur wer ihn besser kennt, sieht die Anspannung in seinem Gesicht, die zusammengekniffenen Augen, das leichte Zittern der Lippen. Sein weißes Haar ist noch ungekämmt. Er geht immer nach dem Aufstehen gleich fragen. Aus dem abgetragenen Bademantel mit den verblichenen blauen Streifen schauen dünne Beine heraus, die Haut wie Pergament.

„Warten Sie“, ruft Susanne. „Ich sehe gleich nach, Herr Ullrich!“ Sie geht zu den Postfächern und schaut. „Heute nicht, Herr Ullrich.“

Würdest du daneben stehen und dieses „Heute nicht“ hören, du dächtest sofort, Herr Ullrich bekommt sonst jeden Tag Post. Aber dem ist nicht so.
Herr Ulrich bekommt nie Post. Seit 14 Jahren wohnt er hier im Pflegeheim und seitdem hatte er noch keine Post. Aber jeden Tag geht er zur Luke und fragt.

Und dafür, wie Susanne das „Heute“ von „Heute nicht“ ausspricht, dafür hat er sie so gern. 

Doris Bewernitz

Gefunden in: Der Andere Advent 2019/20