Gefangen im Pflegeheim?

Mit brüchiger Stimme gab die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung Bemerkenswertes zu Protokoll: „Mich belastet ganz besonders, was die Menschen erdulden müssen, die in Pflege-, Senioren- Behinderteneinrichtungen leben. Dort, wo Einsamkeit ohnehin zum Problem werden kann, ist es in Zeiten der Pandemie und ganz ohne Besucher noch viel einsamer.“

Das belastet auch mich ganz besonders, denn über 30 Jahre habe ich mich um ältere Menschen mit Pflegebedarf oder Demenz gekümmert und  entsprechende Wohn- und Sorge-Projekte verwirklicht. Es macht mich unendlich traurig, da ich weiß, dass Menschen mit einer Demenz die Lage kaum begreifen und unglücklich sind.

Der Autor Sönke Krüger, dessen Mutter dement, pflegebedürftig und in einem Pflegeheim lebt, beschreibt diese Situation in der Ausgabe
Die Welt vom 2. Mai 2020 sehr anschaulich: „ Es zerbricht mir das Herz, dass sie die Lage kaum begreift, dass sie, die sich in ihrem Heim bisher wohl gefühlt hat, weil sie dort unter Menschen war, nun von Tag zu Tag unglücklicher wird. Dass sie dem Schmerz des Alleinseins mit laut gestelltem Fernseher zu entkommen versucht, wobei es egal ist, was gerade läuft, “Hauptsache, es ist nicht so schrecklich still“. Dass sie mich neulich fragte: „Bin ich im Gefängnis?“

Die Bundeskanzlerin wurde in ihrer Rede noch emotionaler:
„Es ist grausam, wenn außer den Pflegekräften niemand da sein kann,
wenn die Kräfte schwinden und ein Leben zu Ende geht.“ 

Da hat sie natürlich recht. Aber ist es nicht die Pflicht von Gesellschaft und Regierung, dieses Grauen so gut es geht zu beenden? Dafür zu sorgen, dass doch wieder Angehörige da sein können? Angela Merkel sagte dann:
„Wir kämpfen den Kampf gegen das Virus auch für sie“, also für die isolierten Älteren in den über 14.000 deutschen Pflegeheimen. 

Ich sage: Nein, das wird nicht getan. Es ist der einfachste Weg, das Problem wegzuschieben. Die Älteren in den Pflegeheimen werden allein gelassen.

In meinem Beitrag „Menschenrechte verletzen Grundrechte“ habe ich geschrieben:

„Bewohner in Pflegeheimen jetzt viele Monate zu isolieren, ist unmenschlich und unzumutbar. Dies gilt erst recht für ältere Menschen, die im Sterben liegen, die von ihren Angehörigen nicht begleitet werden und sich nicht verabschieden können. Geht es nicht um ein menschenwürdiges und begleitetes Sterben, statt um einen einsamen, würdelosen Tod?

Jede Person, also auch der ältere Mensch, hat seine einzigartige Würde und Anspruch darauf, dass wir diese Würde respektieren und so viel wie möglich – auch finanziell – für deren Verwirklichung tun. Das muss unser Leitbild einer älterwerdenden Gesellschaft sein.

Bei allem Verständnis für strenge gesundheitliche Regelungen gilt es, hier Lösungen für Menschlichkeit und Augenmaß zu finden. Sonst fühlen sich die Bewohner in Pflegeheimen noch mehr als früher schutzlos ausgeliefert und die gut gemeinten Schutzmaßnahmen fördern nicht nur den sozialen Tod.

Auch der Vorschlag, Risikogruppen weiterhin in Quarantäne zu halten, ist abzulehnen. Es kann nicht sein, dass älteren Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verwehrt wird.”

Dazu kommt, dass die Pflegekräfte dort bis heute nicht genügend Schutzanzüge, medizinische Masken und Corona-Testkits zur Verfügung haben. Sie müssen sich auch noch selbst um die Bewältigung der Misere kümmern. Hier hätten alle Bewohner und Mitarbeitende längst getestet werden müssen, da es sich hier um Hoch-Risikogruppen handelt, wie vor allem die Virologen ständig gebetsmühlenartig bestätigen.”

Auf meinen Beitrag hin habe ich zahlreiche Zuschriften erhalten, die in ihrer Feststellung identisch sind: “Ich habe den Text gelesen und mir ist eins klar: ungeheuer schwierig, den von Ihnen geforderten Weg zu gehen, ohne die Menschen in diesen Corona-Zeiten zu gefährden! Ich denke, es wird sich was ändern, es muss sich etwas ändern!“

Ich habe geantwortet:“ Sie haben völlig recht, dass der von mir geforderte Weg schwierig ist. Doch er ist machbar, wenn man will mit entsprechenden Konzepten und mit den erforderlichen Schutzmaßnahmen. Aber die meisten Heimleitungen haben Angst und sperren lieber zu. Ich weiß sogar von Behörden, die ganz offen sagen, an Demenz Erkrankte sollten sediert und in ihren Zimmern eingeschlossen werden, damit sie im Heim nicht rumlaufen!

Es gibt viele Möglichkeiten: Es lassen sich Räume für Besuche organisieren mit Schutzkleidung für Angehörige. In den Speisesälen können die Tische soweit auseinander gezogen und in zwei Schichten gegessen werden, damit die Bewohner nicht im Zimmer auch noch alleine essen müssen.
Und vor allem: es ist doch eine Schande, dass nicht längst alle Mitarbeitenden in der Pflege getestet sind, ebenso Besucher, die in die Heime kommen. Und es immer noch an Schutzkleidung fehlt.”

Und es gibt weitere Lösungsansätze: In Baden-Württemberg und in der Schweiz sind in Eigeninitiative  „Haus-an-Haus-Lösungen“ entstanden und bereits erfolgreich im Einsatz. Es handelt sich hier um kleine Besuchshäuschen, die außen an Türen oder Fenstern von Pflegeheimen angedockt werden und ebenfalls mit virensicherer Glasscheibe und Gegensprechanlage ausgestattet sind. Angehörige sitzen in der einfach zu desinfizierenden Kabine und betreten das Heim nicht, während auf der anderen Seite der Scheibe die besuchten Bewohner sitzen. Eine Stuttgarter Firma bietet sie für unter 5000 Euro an.

Was können Heime sonst noch tun? Ich stimme Andreas Kruse, einem der renommiertesten Gerontologen Deutschlands uneingeschränkt zu,
der in dem Interview mit dem Südkurier vom 29.4.2020 sagt:
„Die Aktivierung der Bewohnerinnen und Bewohner ist von großer Bedeutung – und zwar mit Blick auf die verschiedenen Ebenen der Person: körperlich, geistig, emotional, sozial, spirituelle. Denn nur unter dieser Voraussetzung wird eine zentrale Aufgabe erfüllt: die Selbstbestimmung, die Teilhabe, die Kompetenz, die Lebensqualität der Bewohner zu fördern und zu erhalten. Es kommt hinzu: Bewohner benötigen möglicherweise psychologische und seelsorgerische Begleitung. Ich hatte sehr viel von einer Begleitung, die auf dem Wege von Telefon oder Skype erfolgt. Wir müssen erkennen: für viele Bewohner ist eine Grenzsituation gegeben, in der sie auf fachlichen Beistand angewiesen sind.“

Ich könnte noch viel mehr vorschlagen. Doch den meisten Trägern fehlt es an Mut und Kreativität, gehen lieber den leichten Weg und handeln im vorauseilenden Gehorsam. Und Heime, die vorher schon nicht mit Angehörigen zusammengearbeitet haben, nicht in den Gemeinden vernetzt waren, tun es in einer solchen Krise erst recht nicht. Erst recht möchte ich mir nicht ausmalen, was in den Heimen mit schlechter Pflege jetzt passiert.

Hier braucht es erst recht der sozialen Kontrolle durch Besuche von Angehörigen, Ehrenamlichen und bürgerschaftlich engagierten Personen. Diese Kontrolle ist viel wirksamer und entscheidender als die MDK- und Heimaufsichts-Prüfungen.

Es reicht nicht, wenn die Bundeskanzlerin sagt: „Vergessen wir nicht die 80- und 90-Jährigen, die unser Land aufgebaut haben und jetzt in zeitweiliger Isolation leben müssen.“

Auch hier muss endlich und dringend Geld in die Hand genommen werden. Während Bund und Länder gerade Hunderte Milliarden Euro an Hilfsgeldern großzügig und unbürokratisch an Kurzarbeiter und Freiberufler, an Schulen und Start-ups verteilen – dies ist wichtig und richtig ist-, dürfen die Älteren in Pflegeheimen nicht vergessen werden, sonst bleiben die Worte der Bundeskanzlerin leere Worthülsen.

Ich kann nur hoffen und werde auch weiterhin meine Stimme erheben, dass nach der Krise endlich Vieles auf den Prüfstand kommt.