Pflegereform oder Etikettenschwindel?

Die Bundesregierung hat jetzt eine Pflegereform vorgestellt. Seit Jahren hat sie immer wieder versucht, die Lage in den Kliniken und vor allem auch in den Pflegeheimen zu verbessern. Was sind die größten Baustellen?

Personal

Das wohl größte Problem der Pflege bleibt weiterhin der Fachkräftemangel. 2018 versprach Minister Spahn 13.000 neue Stellen in der Altenpflege zu finanzieren. Doch schnell wurde klar, das Geld allein kaum hilft. Nach Angaben des Spitzenverband der Krankenkassen GKV sind seitdem lediglich knapp 3000 dieser Stelle tatsächlich besetzt. 

Neben dem Fachkräftemangel ist meines Erachtens das noch viel größere Problem die tägliche personelle Unterbesetzung. Bereits 1991 – also vor 30 Jahren !! – habe ich offensichtlich als Erster in Deutschland in einer eigenen Unternehmensstudie  die tägliche personelle Unterbesetzung von circa 30 Prozent nachgewiesen. Und seit dieser Zeit ist so gut wie nichts geschehen. 

Jetzt wird die Politik endlich gezwungen, das Kernproblem der Altenpflege zu lösen.

Auslöser ist offensichtlich die Personal-Bemessungsstudie von Prof. Dr. Heinz Rohgang und seinem Team der Universität Bremen, die die Ergebnisse meiner Untersuchung bestätigt und nachweist, dass sogar 36 Prozent mehr Personal in der vollstationären Pflege erforderlich ist, um die anfallenden Aufgaben sach- und fachgerecht ausführen zu können.

Ein weiteres Ziel des Gesundheitsministeriums ist es, Pflegekräfte aus dem Ausland zu gewinnen. Die Erfolge sind bescheiden. So wurden 2019 circa 15.500 ausländischer Abschlüsse in der Gesundheits und Krankenpflege anerkannt. Wichtige Herkunftsländer dieser Pfleger waren dabei die Philippinen, Bosnien-Herzegowina und Albanien.

Vergütung 

Entgegen der immer wieder in der Öffentlichkeit diskutierten schlechten Bezahlung der Pflegekräfte sind dem Statistischen Bundesamt zufolge die Bruttolöhne der Pflegekräfte sowohl in Kliniken wie auch in Pflegeheimen seit 2010 um ein Drittel gestiegen. In den Pflegeheimen beträgt die Zunahme sogar 38,9 Prozent. Damit fällt die Steigerung deutlich stärker aus als in der Gesamtwirtschaft des produzierenden Gewerbes und der Dienstleistungen. So verdienten im vergangenen Jahr Pfleger in Kliniken im Durchschnitt 3578 € brutto im Monat, in Pflegeheimen 3363 € und in Altenheimen 3291 €.

Die Abweichungen sind vor allem auf die Tarif Löhne zurückzuführen, die meist in der Krankenpflege gezahlt werden. In der Altenpflege ist dies nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums nur bei der Hälfte der Fachkräfte der Fall. nur 59 Prozent der Pflegenden werden nach Tarif bezahlt 

Diese Diskrepanz war unter anderem auch Anlass für die am Mittwoch vom Kabinett auf den Weg gebrachte Pflegereform. Ein verbindlicher Tarifvertrag für die gesamte Branche ist bisher gescheitert.  Nun sollen ab dem 1. September 2022 Versorgungsverträge nur noch mit Pflegeeinrichtungen abgeschlossen werden dürfen, die nach Tarifverträgen oder mindestens in entsprechender Höhe bezahlen.

Arbeitsbedingungen

Die meisten Pflegekräfte arbeiten im Schicht und Wochenenddienst und erlebten bereits lange vor der Pandemie einen physisch sowie emotional belastenden Arbeitsalltag. Diese belastende Situation lässt sich weniger mit einem höheren Gehalt abfedern, sondern vor allem durch mehr Kolleginnen und Kollegen pro Schicht und damit weniger Belastung und Stress.

In jeder Schicht eine tägliche personelle Unterbesetzung von mindestens 30 Prozent und gleichzeitig zu lange Dienstzeiten mit 11 Arbeitstagen am Stück führen zu Arbeitsverdichtungen, Fließbandarbeit, Krankheit, Burnout, Unzufriedenheit, Frustration und damit auch zu Fehlern, Mängeln in der Pflege, und zu Missständen.

Hier liegt also der dringende Handlungsbedarf und nicht in erster Linie in der Auszahlung von Boni und mehr Gehalt. Lesen Sie hierzu auch meinen Beitrag Pflege neu denken! Was sich ändern muss!

Vor dem Hintergrund der personellen Unterbesetzung hat das Gesundheitsministerium 2019 in den Kliniken die so genannten Pflegepersonal-Untergrenzen eingeführt, die festlegen, wie viele Patienten eine Krankenhauspflegekraft maximal betreuen darf. Gesundheitsexperten und Krankenkassen kritisieren diese Untergrenzen als deutlich zu niedrig. Diese definierten nicht „gute Pflege“ sondern seien ein absolutes Mindestniveau, um Patientengefährdung zu verhindern, heißt es aus dem GKV Spitzenverband.

In der Altenpflege dagegen wird ein Verfahren erprobt, das auf Basis der Bewohnerstruktur den Personalbedarf ermittelt. So werden keine pauschalen Mindestvorgaben gemacht, sondern pro Heim der genaue Pflegebedarf und das dafür notwendige Personal berechnet. Dieses Instrument schafft somit die Grundlage für Neueinstellungen, wenn der Markt diese dann auch hergibt.

Ausbildung

Die Ministerien Gesundheit, Familie und Arbeit verkündeten Anfang 2019, die Zahl der Pflege-Azubis und ausbildenden Einrichtungen bis 2023 im Bundesdurchschnitt um 10 Prozent steigern zu wollen. Im Jahr 2019  begannen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 71.300 Menschen eine Ausbildung in einem Pflegeberuf, immerhin 8 Prozent mehr als im Vorjahr und 39 Prozent mehr als noch vor zehn Jahre. Allerdings schlossen in dem Jahr lediglich 62 Prozent die Ausbildung auch tatsächlich ab.

Kontraproduktiv ist allerdings, dass lediglich 62 Prozent der Pflegeheime und nur 35,3 Prozent der ambulanten Pflege- und Betreuungsdienste Ausbildungen anbieten.

Eckpunkte der Pflegereform

Um die finanzielle Belastung der Bewohnerinnen und Bewohner in Grenzen zu halten, soll deren Anteil an den Pflegekosten im ersten Jahr des Heimaufenthaltes um 5 Prozent sinken. Im zweiten Jahr übernimmt die Pflegekasse 25 Prozent, im dritten Jahr 45 Prozent und danach 70 Prozent des Eigenanteils.

Die Kosten für Unterkunft und Verpflegung sind von dieser Regelung ausgenommen.

In der ambulanten Pflege sollen die Leistungsbeträge der Pflegeversicherung um 5 Prozent steigen. 

Weitere Regelungen betreffen die Arbeit der Pflegekräfte. Sie sollen mehr Entscheidungsbefugnisse bei der Auswahl der richtigen Hilfsmittel und in der häuslichen Versorgung von Pflegebedürftigen erhalten. 

Für Pflegeheime soll künftig ein einheitlicher Personalschlüssel gelten, um die Einstellung zusätzlicher Pflegekräfte zu ermöglichen. 

Zur Finanzierung sind ein Bundeszuschuss von 1 Milliarde €  jährlich für die Pflegekassen sowie eine Anhebung des Pflegebeitrages für Kinderlose um 0,1 Prozentpunkte vorgesehen. Dies soll etwa 400 Millionen € ausmachen. 

Sozialverbände und Opposition kritisieren die Neuregelung als unzureichend. Auch gibt es Zweifel an der Finanzierung und daran, ob die Entlastungen überhaupt bei den Pflegebedürftigen ankommen.

Private Anbieter von Pflegeeinrichtungen sprechen ihrerseits von einer Existenzgefährdung ihrer Unternehmen durch die Pflicht zur Zahlung von Tariflöhnen und kündigten dagegen juristische Schritte an.

Hart ins Gericht mit dieser Pflegereform geht Prof. Dr. Stefan Sell in seinem Beitrag „Kurz vor dem „Nichts geht mehr“: Die „Pflegereform“ auf der Zielgeraden. Anmerkungen zu einem Etikettenschwindel mit Luftbuchungen inmitten von Flickschusterei”.